1.12.2021

Daniel Osterwalder

Endlich wieder Home Office

Brustbildcoaching oder von den Grenzen des Remote Facilitating

Langsam bin ich es Leid! Trotz gebogenem und teurem Bildschirm, trotz zusätzlichen Kameras und trotz eines Mikrofons will das Brustbildcoaching, wie ich es nenne, einfach nicht gelingen. Mal friert das Gesicht des Gegenübers ein, mal bricht die Stimme ab und richtig warm wird nur der Bildschirm.

Hello NEW Work! Und immer mal wieder verlassen wir die Sitzung versehentlich, weil der Button "verlassen" bei einigen Meetingapplikation justement dort liegt, wo bei anderen Anwendungen "Kamera aus" angewählt werden kann. War es das schon mit der Innovation oder mit der Digitalisierung? Mit den Learnings "nach" Corona? Alle Innovation verkürzt auf digitale Innovation, die Joël Luc Cachelin so treffend Placebo Innovation nennt und zu allem anderen führt, aber sicher nicht zu Transformation. Und was tun in Sachen Coaching? Vielleicht helfen uns die im folgenden geschilderten Grenzen, kreativ neue Formen zu finden.

Egal, ob mit Google Meet, Zoom, EducateOnline, Microsoft Teams, Bluejeans, Skype, GoToMeeting oder Whatsapp (für jene, die sich über die Altweltaspekte "Professionalität" foutieren) - alle diese Videotools sind nichts anderes als Krücken und Hilfsmittel für unsere eigentliche Arbeit und sollten ebenso handlich sein wie beispielsweise ein Schraubenschlüssel, Schwingbesen, eine Pfeffermühle oder ein Inbusschlüssel. Und sie sollten in der Anwendung so aufgebaut sein, dass ich als Coach mit ein paar wenigen Klicks mein Meeting mit meinen Kund*innen terminiert und geplant habe, ohne mich vorher in ein Handbuch einlesen zu müssen. D.h. das Tool passt sich an mich als Coach an und nicht umgekehrt. Und damit ist es eben so eine Sache. Gerne will ich hier sechs Aspekte ein bisschen aufmerksamer betrachten.

1. Der Coachingraum als Raum des Vertrauens

Die Fülle an Applikationen, die derzeit auf den Markt geworfen werden für Online- oder Videokonferenzen verleiten uns dazu, zu meinen, dass Coaching, Facilitating und Teamwork vor dem Bildschirm genauso gut funktionieren wie wenn wir uns physisch treffen. Dem ist nicht wirklich so.

Betrachten wir beispielhaft eine Coachingsession: Wir sehen den Termin in unserem Kalender, machen uns möglicherweise ein paar Notizen zur Vorbereitung, schnüren unsere Schuhe, ziehen eine Jacke oder einen Mantel an und machen uns auf den Weg. Unterwegs kommen uns noch einige Gedanken in den Sinn, die uns mehr oder weniger intensiv beschäftigen. Und schon bald stehen wir vor der Tür des Coachs, läuten und treten ein. Schon beim Öffnen der Türe ändert sich etwas ganz grundlegend (eventuell – in Erwartung – gar zuvor): Die olfaktorischen Reize, die uns «empfangen», haben keinen geringen Einfluss auf alles Weitere, denn wie alle Menschen auch «ankern» wir mit Gerüchen schöne oder auch weniger schöne Erlebnisse und Erinnerungen. Und unser körperliches Gedächtnis erinnert uns daran, dass wir zuerst fünf Schritte vorwärtsmachen, uns dann nach links wenden, dann nach vier weiteren Schritten vor der Türe des Coachingraums stehen. Mittels Raumgestaltung, der Anordnung von Sesseln und bunten Stühlen, einem kleinen Tischchen für Wasser und evtl. einigen Utensilien für den Einsatz einfacher Rituale, den obligaten Tempos und einigen Gartenblumen in der Ecke vermittelt mir dieser Raum nicht nur eine angenehme Atmosphäre, sondern öffnet wiederum die Türe zum Vertrauen, das sich – Schritt für Schritt – seit dem ersten Coaching eingestellt hat. All dies entfällt beim online Coaching. Wir öffnen mittels Link ein «Fenster», warten bis wir «eintreten» dürfen, blicken dann in die Augen unseres Coaches und nehmen Teil an einem Brustbildcoaching mit den eingangs erwähnten digitalen Verzerrungen.

Die Herausforderung beim Online-Coaching besteht also darin, wie ich den in der Geschichte erwähnten Raum des Vertrauens aufbaue. Wie arbeite ich mit Licht? Welcher Hintergrund soll sichtbar sein (und BITTE: Hände weg von den zur Verfügung gestellten digitalen Hintergründen!)? Wie kleide ich mich? Wie setze ich Licht ein, wenn ich etwas visualisieren will? Brauche ich möglicherweise eine zweite Kamera, damit auch auf den Tisch und meine Hände zoomen kann, wenn ich beispielsweise etwas darstellen will? Wie lade ich den Coachee olfaktorisch ein, d.h. wie gelange ich dahin, auch diesen Raum in den Coachingprozess zu integrieren? Und damit sind wir mitten drin im zweiten Aspekt.

2. Wir sind mehr als nur "sehen und hören"

Peter Senge erwähnt die Geschichte: Wenn sich Menschen treffen, dann sagt der, der bereits da ist: "Ich sehe dich!" Worauf der Ankommende festhält: "Ich bin da." Gerade in Zeiten des Social Distancing wollen wir die Fahne des Verbindens hochhalten und immer und immer wieder auch feststellen, dass wir uns sehen und uns dies auch mitteilen: Ja, ich seh dich, ich nehme dich tatsächlich wahr und ich versuche auch auf Distanz genau hinzuhorchen, was du sagst und zeigst. Und ich will als Coach auch sehr vertieft darauf hinweisen, dass ich mein Gegenüber auf vielfältige Arten und Weisen wahrnehme, fühle, um so mit ihm oder ihr in eine Pacing zu gelangen, das wir ja beide anstreben. Darum: Fragen stellen, Fragen vorbereiten, Fragen vertiefen und mit Bildern, Fotos und Gegenständlichem arbeiten, damit wir uns auch online in aller Vielfalt begegnen können.

3. Alles eine Frage der Transformation?

Mit Kurt Lewin gehen wir davon aus, dass Menschen gemeinsam immer auch ein soziales Feld schaffen. Das ist derzeit, auf Distanz nicht ganz banal. Darum: Gestalte deine Treffen sehr interaktiv, sehr kollaborativ. Sei auch ausführlich beim Check-in, bezieh alle ein, wenn du als Facilitator die Gruppe begleitest. Und: Sei persönlich, zeig dich in deiner Wohnung, kram deine Lieblingstasse hervor, zeig, wie und was sich gemütlich anfühlt, schön, entspannt eben auch. Animiere alle dazu, sich im Check-in genauso zu zeigen und starte mit einer entsprechenden Geschichte. Denn: Informelle Gespräche beim Kopierer, während der Kaffeepause oder an der Kaffeemaschine entfallen. Darum schaffe auch Raum dafür, Raum für das Informelle, Raum für die Momente, an die wir uns immer sehr gerne erinnern, wenn wir in den Zustand des Flow gelangen.

4. Nonverbal - paraverbal oder von den blinden Flecken der Digitalisierung

Du teilst heute und für längere Zeit nicht mehr denselben Raum mit anderen. Das bedeutet auch, dass du Stimmungen, Eindrücke, Gefühlslagen, Emotionen nicht mehr auf dieselbe Weise wahrnehmen kannst, wie du das sonst tust, wenn du mit einem anderen Menschen oder einer Gruppe von Menschen im Austausch bist. Versuche deshalb, das Gefühl der Distanz bewusst und gezielt zu überwinden, indem du beispielsweise deine Gefühle mitteilst, sagst, wie es dir gerade geht, wie du mit der Angst beispielsweise umgehst etc. Du brauchst dazu kein "Tschaka" oder andere etwas alberne Dinge, um die Distanz zu überwinden. Setze deine Authentizität ein, geh von deiner Mitte aus, von deiner Verbindung zu dir, die du im Voraus des virtuellen Meetings schaffst. Und tausch dich auch aus, was diese Distanz mit dir macht, wie sich diese anfühlt und was es bedeutet, tagtäglich in dieses flache Ding vor dir zu starren im Bewusstsein, dass in und mit diesem flachen Ding die Begegnung in aller Vielfalt nicht gelingen wird.
Und sprich dann das an, was man nicht sieht oder nicht fühlt, eben, weil wir auf Distanz sind. Vielleicht sagt jede und jeder einmal etwas zum Blick aus dem eigenen Fenster oder erzählt gerade, was in seinem oder ihrem Home Office gerade angesagt ist.

5. Kreativität als möglicher Ausweg?

Was wir heute erleben, hat es so eigentlich noch nie wirklich gegeben, in unseren Breitengraden und für unsere Generation. In der Schweiz erlebten wir eine vergleichbare Situation (und sie war ebenfalls umstritten) während des 1. Weltkriegs. Deshalb haben wir alle eigentlich keine Erfahrungen damit. Darum: Sprich das gleich zu Beginn des Meetings an. Erläutere, dass die Situation für alle neu ist und schwöre alle darauf ein, kreativ, im Sinne des Anfängergeistes und im Sinne der Verbundenheit damit umzugehen. Also: Wir sitzen zusammen im Boot, metaphorisch gesprochen. Und wir gestalten diese Reise gemeinsam. Und wir wollen da gemeinsam auch Freude erleben, Tiefe auch und auch Verbundenheit. Du mit dir, mit deiner Gruppe und mit der Welt! Kreiere darum gemeinsam mit deinem Team auch den Verlauf des virtuellen Meetings, such die besten Elemente großartiger Treffen und Workshops aus udn bewerte sie am Ende, gemeinsam mit deinem Team. Und lass andere teilhaben daran, damit wir alle davon profitieren können.

6.Bitte aufstehen - Coaching ist auch Körperarbeit

Gerade vor dem Bildschirm vergessen wir immer mal wieder, dass wir mehr sind als nur Kopf, Hals und Schultern. Und auch unser Gegenüber ist mehr als nur ein Brustbild. Darum ist es wichtig, dass wir in remote Meetings oder online Coachingsessions Arbeiten und Übungen mit und für den Körper einbauen. Warum nicht Fragestellungen auf Karten schreiben und diese wie in echt im Raum auslegen und eine Situation stellen. Damit wir - Coachee und Coach aufstehen, uns bewegen und auf diese Weise bereits dadurch eine kleine Veränderung machen. Und warum nicht einfach eine halbe Stunde einplanen für einen Gang nach draussen mit ganz spezifischen Aufträgen. Gerade deshalb spreche ich immer wieder auch alle sechs Wahrnehmungskanäle an und integriere einen kurzen Gang draussen oder gar einen Naturgang in remote Meetings und online Coachings. Davon später mehr.

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